Genagelte Lover

RS

24. November 2022
24. November 2022 / RS

24. November 2022 / RS

Werner hatte mächtig zu tun. Sein neuer Auftrag verlangte Tempo, seit Monaten. Dem Tag in der Firma, folgte die Nacht für die Firma. Ohne Umwege ging er nach dem Abendessen wieder an den Schreibtisch. Auf der polierten Tischplatte reihten sich die Stifte. Akkurat angespitzt, farblich sortiert, wiesen alle Farbstifte in die gleiche Richtung. Nichts vermochte Werners akkurate Planungen durcheinander zu wirbeln, weder auf seinem Schreibtisch, und schon gar nicht in seinem Leben. Störungen lähmten – dann war mit Werner nicht zu spaßen. Emotionale Wutausbrüche waren keine Seltenheit. Werners grundlose Eifersuchtsszenen, blieb Ilona mal länger als abgesprochen bei einer Freundin, ließen kaum mehr Raum für Zärtlichkeiten.
Ilona hatte gelernt mit Werners beruflichem Einsatz zu leben. Erfolg im Job hatte eben seinen Preis. Nach ihrer Auffassung, einen zu hohen Preis. Sie war es überdrüssig, Prellbock eines beruflich  frustrierten Mitfünfziger zu sein. Ihre Träume durften nicht sterben. Nicht jetzt, nach mehr als zwanzig Jahren gemeinsamen Weges. Gefangen im Alltagstrott, hatte Werner kein Ohr frei,  Zukunftspläne zu schmieden. Seine Welt war farblos geworden. Spontanität, Lachen und Leidenschaft lagen tiefgefroren zwischen Terminen und Zeichenprogrammen.
Ilona ließ nicht locker Berührungspunkte aufzutauen und überraschte ihn in seinem Arbeitszimmer:
„Du, es wird am Wochenende eine Galerie mit Bildern einer Afrika-Safari eröffnet!“
„Einer was?“
„Einer Afrika-Safari, Namibia und mehr, erinnerst du dich noch an unsere Safari!Unsere eigene Safari-Galerie? Das wäre was!“
„So!!!!“
Werners Stimme vibrierte. Just machte Ilona auf dem Absatz kehrt und krachend fiel die Türe ins Schloss. Wenn der Prophet nicht dem Ruf des Berges folgt, dann kommt der Berg eben zum Propheten, murmelte sie in sich hinein.
Giraffen die ihre langen Hälse reckten, um am zarten Grün der Akazien zu knabbern, Elefanten die im Wasserloch badeten, Löwen die im Gestrüpp der Savanne dösten, Antilopen, Leoparden, Nilpferde, das sortieren der Negative wurde für Ilona zur Reise in die Vergangenheit. Das Klicken der Maustaste beim Versenden der ausgesuchten Negative an ein Fotostudio, zum Baustein ihrer gemeinsamen Zukunft mit Werner. Die per Postzustellung gelieferten Bilder versteckte Ilona auf dem Dachboden. Mit dem Zollstock vermaß sie die Wände im Hausflur. Zeichnete einen detaillierten Plan. Sie besorgte Bohrmaschine und Dübel.

„Heute Abend ist in der Firma eine Konferenz anberaumt, es wird spät werden, du brauchst nicht auf mich zu warten.“ Werner schob das Handy in die Jackentasche und ging.
Für Ilona gab dies den Startschuss. Der Zeitpunkt war gekommen, die Wände im Flur in eine Galerie zu verwandeln. Ihre Wangen glühten vor Aufregung, als sie die Bilder samt Werkzeug und Leiter, vom Dachboden holte. Ihr Handy piepte:
„Hallo Schatz, Konferenz wurde abgesagt, bin gleich da, Kuss.“
Sie schob das letzte Bild gerade in das Garderobenzimmer im Flur, als sich der Schlüssel im Türschloss drehte.
„Guten Abend, nun musst du leider die Liebhaber wieder ausladen!“, hauchte Werner ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange.
„So ein Pech! Gehst du mit dem Hund die Gassi-runde, dann richte ich das Abendessen.“
Schwanzwedelnd zogen Vierbeiner samt Herrchen von dannen.
Was nun. Die Zeit war zu knapp, all die Bilder bis zur Rückkehr der beiden aufzuhängen. Schnell trug sie alle ins Schlafzimmer. Stellte diese um und auf das Bett, vor Schrankwand,  Kommode und Sessel. Die Abendsonne fiel durch die breite Fensterfront und tauchte den Raum in weiches Licht.
„Passend, das Ambiente!“, klopfte sich Ilona auf die Schulter und hörte Werners Schritte den Flur entlang kommen.
„Bin zurück. Konntest du den Liebhabern absagen?“ fragte Werner.
„Die Zeit war zu knapp bemessen. Komm, ich stelle sie dir vor. Sie warten im Schlafzimmer!“, konterte Ilona und packte den sprachlosen Werner an der Hand.
Ihm stand die Ratlosigkeit ins Gesicht geschrieben. Seine Lippen versuchten Worte zu formen, doch seine Mundwinkel gaben nur bizarres Zucken wieder.
„Die Herren erwarten dich!“, öffnete Ilona die Türe, ließ seine Hand los und wirbelte durch den Raum.
„Genial, super!“ klebten Werners Blicke an den Bildern.
„Stattliche Verehrer. Lass uns die Liebhaber an die Wand nageln, bevor sie das Weite suchen!“ zog Werner, Ilona an sich.
„Bunt, Farbe, Licht, Leben, Lachen, spontan sein!“, lachte Ilona.
„Weiter so, nicht aufgeben!“ Werner griff nach Bohrmaschine und Dübel. Ilona nach Maßstab samt der Zeichnung über die Aufbau der kleinen Galerie. 

Wenn der Prophet nicht dem Ruf des Berges folgt, dann kommt der Berg eben zum Propheten, murmelte sie in sich hinein.

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