Sehnen nach Heimat

RS

20. Januar 2023
20. Januar 2023 / RS

20. Januar 2023 / RS

Martha zog sich die Kapuze ihres Mantels tief in die Stirn. Klare Winterluft. Eisig blies der Ostwind um ihre Nase. Der Schnee knirschte unter den Stiefeln. Von Ferne drang Kinderlachen an ihre Ohren. Mädchen und Jungen sausten mit Schlitten einen Abhang hinab. Beim Bremsen kratzten die Kufen im Schnee. Fegten den feinen Pulverschnee in dichten Wolken gen Himmel. Martha atmete tief. Für wenige Augenblicke hielt die Welt inne. „Heimat“, kroch es über ihre Lippen, und es klang nach lebensnotwendiger Nahrung. 

Gebannt folgten ihre Augen der bunten Schar unterschiedlichster Nationalitäten die im Schnee spielten. „Wie zuhause in Rumänien“, vernahm sie eine Stimme an ihrer Seite. Martha blickte in die Augen eines von tiefen Falten durchfurchten Gesichtes. Der Greis redete weiter, erzählte von eisigen Wintern, tiefen Schneewehen und Schlittenfahrten. Von einem Haus, einsam gelegen am Ortsrand, von langen Winterabenden am Kaminfeuer, von Hunger und Einsamkeit. Von seiner langen Reise hierher. In seinen Worten schwang Sehnsucht nach dem Ort seiner Kindheit, Sehnsucht nach etwas was er nie wieder finden würde.

Sie tummelten sich auf den Spielfeldern der Möglichkeiten, wie sie lustig waren.

Bald würde die Sonne untergehen. Sie, die Kinder und der alte Mann in ihre Wohnungen zurückkehren. Martha ging weiter. Das Wort Heimat wollte ihr nicht mehr aus dem Kopf. Nannte sie dieses Fleckchen Erde nun ihre Heimat. Das kleine Haus mit der blauen Acht und den unebenen Pflastersteinen im Eingang. Einer uralten Holzbank in der Diele auf die sie nach Rückkehr von ihren zahllosen Reisen ihren Rucksack abgestellt hatte. Wiedereinmal hatte sie ihren Rucksack ausgepackt. Das Häuschen wieder in Besitz genommen, mit Wörtern, Liedern, Geräuschen und Düften gefüllt. Sie war glücklich, morgens die Kirchenglocken zu hören. Bekannten Menschen die Hände zu drücken. Beim Hören der Nachrichten und in Gesprächen wieder jedes Wort zu verstehen. Vielen Menschen, die Martha unterwegs begegnet waren, war der Begriff Heimat fremd. Sie hatten an unterschiedlichsten Orten gelebt, gefeiert und gearbeitet. Sie waren flexibel, einfallsreich und es gelang ihnen in Dubai, New York oder Paris neue Firmen aus dem Boden zu stampfen. Sie tummelten sich auf den Spielfeldern der Möglichkeiten, wie sie lustig waren. Martha tat es ihnen gleich, nur mit dem Unterschied, dass eine Sehnsucht nach Heimat in ihrem gejetlagten Körper rebellierte.

Martha stand im Garten. Sie lauschte der Stille der Nacht. Wie selbstverständlich war sie nach all den Jahren des Auf und Ab wieder hier angekommen, wie Staub, der zwischen Bodendielen fällt. Dies ist meine Nahrung, meine Heimat, dachte sie. Der eisige Wind trieb ihr erneut die Stimme des alten Mannes in die Ohren. Sie atmete tief. Hätte sie diesen Ort ihrer Sehnsucht, ihre Nahrung nicht wieder gefunden, wie hätte sie weiter leben können?

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